Die „Frustrations-Aggressions-Hypothese“

Situations-/Problemdarstellung

Eine Klientin berichtet im Coaching von einer Begebenheit in der Schule. Die A-Klasse von drei des Jahrgangs, in der sie war, galt als besonders angenehm zu unterrichten, aufmerksam, interessiert und wohlerzogen. Es geht um den Physikunterricht, die Klasse war insgesamt mit mittelmäßigen Benotungen ins neue Schuljahr gestartet mit einem neuen Physiklehrer.

Die explizite Einstellung und konsequent praktizierte Unterrichtsmethode dieses Physiklehrers war offenbar, grundsätzlich alles lediglich ein einziges Mal zu erklären. Die Schüler sollten sich ein Unterrichts-Tagebuch anlegen und bei Fragen gegebenenfalls in Ihren Mitschriften die Antworten suchen.

Die Schülerin und die Mehrzahl der Mitschüler waren zunehmend überfordert und die Frustration steigerte sich von Stunde zu Stunde. Dies führte zur indirekten wie direkten Ablehnung des Lehrers, des Schulfachs Physik, teils zum Boykott, teils zu Provokation, teils durch demonstratives Desinteresse. Ansonsten als wiss- und lernfreudige Schülerin, die in allen Fächern in der ersten Reihe ihren Platz nahm und für die gute Noten wichtig sind, setzte sie sich nach einiger Zeit in Physik in die letzte Reihe und verbrachte die Unterrichtsstunde mit dem Austausch von Textnachrichten und dem Erstellen von Comic-Zeichnungen mit der Freundin.

Die Lage hat sich innerhalb der Klasse so zugespitzt, dass es zur Routine wurde, dass der Lehrer zahlreiche Klassenbucheinträge und Abmahnungen vornahm und regelmäßig Strafarbeiten verordnete und mit Schulverweisen drohte. Da immer häufigere Versuche zur Auseinandersetzung mit der misslichen Lage, sowie der verbalen Konfrontation von Seiten der Schüler durchweg erfolglos verliefen und vielmehr die Situation insofern weiter eskalierte, dass keinerlei Wortmeldung vom Lehrer mehr akzeptiert wurde, nicht einmal, als jemand wegen Übelkeit zur Toilette musste und sich dieser dann im Klassenraum übergeben musste, ohnmächtig geworden war und schließlich mit dem heimlich gerufenen Notarzt und Krankenwagen abgeholt wurde.

Danach führten einige Jungs eine Manipulation der Türklinke durch, indem sie diese unter Strom setzten und so der Lehrer sich beim Betreten des Raumes einen heftigen Stromschlag zuzog.

Zielsetzung und Fragestellung

Wie lässt sich erklären, dass eine als vorbildlich eingestufte Klasse im Verlauf eines Schulhalbjahres sich bis hin zur Gewaltbereitschaft verändert?

Zur Klärung der Frage wird die beschriebene Situation anhand der „Frustrations-Aggressions-Hypothese“ nach Dollard et al. (1939) betrachtet, um die Entwicklung nachvollziehen und um mögliche Alternativen der Konfliktdeeskalation herausfinden zu können.

Anwendung der Theorie

Erklären lässt sich das Verhalten der Schüler mit der „Frustrations-Aggressions-Hypothese“, welche zurückgeht auf Dollard et al. (1939). Diese besagt, die Neigung zu Aggressivität wird durch Frustration gesteigert. Frustration entsteht, wenn Ziele oder Wünsche nicht erreicht werden. „Die Stärke der Frustration ist dabei proportional zu dem darauffolgenden, aggressiven Verhalten“.

Die Schüler, die grundsätzlich motiviert und interessiert sind, gute Leistungen zu erzielen, fühlten sich überfordert mit dem Lernstoff und der Art der Vermittlung der zu lernenden Inhalte. Aus der Überforderung und dem sich unfähig fühlen, ihrem Ziel und Wunsch gute Resultate zu erzielen, gerecht werden zu können, erwächst Frustration. Diese wird im Verlauf der Geschehnisse gesteigert, indem sie sich durch das Verhalten des Lehrers zusätzlich unterlegen fühlen und ihre Versuche, ihr Ziel für ein erfolgreiches Meistern der Anforderungen und ein Klären des Konflikts wiederholt scheitern.

Gerade weil die Schüler an guten Leistungen interessiert und darum bemüht sind, diese zu erbringen und sie mit dem Lehrstil des Lehrers überfordert sind, ist darin die sich steigernde Frustration durch Nicht-Erreichen eines Zieles und zunehmend im scheiternden Konfliktverlauf das Nicht-Erreichen ihrer Wünsche zu erkennen.

Da sich in der Konflikteskalation die Frustration proportional zu dem darauffolgenden, aggressiven Verhalten entwickelt und zudem sich verhältnismäßig steigert, ist das Resultat schließlich die Gewalt am Lehrer durch die Manipulation des Türgriffs und diesen einem Stromschlag auszusetzen.

Fazit und Diskussion

Die „Frustrations-Aggressions-Hypothese“ nach Dollard et al. (1939) eignet sich auf den ersten Blick gut, um die Entwicklung und Steigerung der Aggressivität der Schüler bis hin zur Gewaltbereitschaft einiger Schüler aufgrund ihrer wachsenden Frustration zu erklären. Da aus Frustration aber nicht grundsätzlich zwingend und immer aggressives Verhalten resultieren muss, wie auch am Beispiel meiner Klientin erkenntlich, die sich eher kreativ betätigte und amüsierte mit ihrer Freundin, müsste man für die Ursachen der Gewaltbereitschaft bzw. der Aggression auch berücksichtigen, welche Personen welche Reaktionsmethoden gewählt haben, beispielsweise anhand ihrer Persönlichkeit und Kompetenzen.

 

 

Aggression wiederum muss auch nicht ursächlich ausschließlich aus Frustration resultieren, sondern Aggression kann auch als erlerntes Verhalten angesehen werden. Die „soziale Lerntheorie“ beschreibt, wie Personen lernen und erklärt, warum sie sich in bestimmter Weise verhalten (Bandura, 1979).

Nach Myers (2008) wird durch die Aggressionsforschung das Verhalten aus einer Interaktion von biologischen Einflüssen, wie genetische, neuronale oder biochemische Einflussfaktoren, und Erfahrungen, wie dem Lernen, dass Aggressionen belohnt werden oder dem Beobachten von Vorbildern für aggressives Verhalten, bestätigt.

Dadurch, dass die Interventionsversuche intern durch die Schüler selbst offensichtlich erfolglos verliefen, wäre als Option zur Konfliktlösung nach Lippmann (2013) entsprechend der „Interventionen entlang den Eskalationsstufen“, das Einschalten einer externen Moderation empfehlenswert. Die Voraussetzungen für das Zustandekommen echter Einigung sind jedoch u.a. ungezwungene Meinungsäußerung, gegenseitiges Vertrauen und Ernstnehmen der jeweiligen Interessen (Lippmann, 2013).

„Konzept der Konflikteskalation“ nach Glasl (1994)
Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett.
Dollard, J., Miller, N. E., Doob, L. W., Mowrer, O. H., & Sears, R. R. (1939). Frustration and aggression. New Haven, CT: Yale University Press.
Lippmann, E. D. (2013). Konfliktmanagement. In T. M. Steiger, & E. D. Lippmann (Hrsg.), Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte (S. 334-339). Berlin: Springer.
Myers, D.G. (2008). Psychologie (S. 664-673). Berlin: Springer.

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