Psychische Erkrankungen auf Platz 1

In einem Seminar mit den Führungskräften einer Firma zum Thema „Stress – Modeerscheinung oder ernst zu nehmen“, welches ich 2005(!) leitete, fragte ich die Teilnehmer, was sie glauben, wie viele von ihnen im Laufe ihres Berufslebens von Berufsunfähigkeit betroffen sein könnten. Allesamt waren High-performer und Männer.

Ein Teilnehmer antwortete: „Da müsste ich schon mit dem Flugzeug abstürzen oder gegen einen Baum fahren“ und die Kollegen pflichteten ihm einstimmig bei.

Dann berichtete ich einleitend von einer Statistik der deutschen Rentenversicherung, wonach im Jahr 2005 fast jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Beruf ausscheiden musste.

Ich befragte die Teilnehmer nach Ihrer Meinung und Einschätzung, bevor ich die tatsächlichen Ergebnisse zeigen wollte, zu den Ursachen von Berufsunfähigkeit. Zur Auswahl standen Rückenleiden, Unfälle, Allergien und psychische Erkrankungen.

Nach Meinung der Befragten ergab, wie in Abbildung 1 ersichtlich, die Einschätzung der Teilnehmer: Rückenleiden 52%, Unfälle 43%, Allergien 19% und psychische Erkrankungen 19%.

Die tatsächlichen Ursachen für BU (Berufsunfähigkeit) lagen für Rückenleiden bei 17%, Unfälle 5%, Allergien 15% und psychische Erkrankungen 33%.

Wie lässt sich erklären, dass von den Teilnehmern des Seminars die Einschätzungen und tatsächlichen Zahlen genau umgekehrt fehleingeschätzt und über- bzw. unterschätzt wurden?

Zur Klärung der Frage wird die „Verfügbarkeitsheuristik“ nach Tversky & Kahneman (1973, 12 zit. nach Fischer et al., 2013) betrachtet, um zu klären, wie die Fehleinschätzungen zu begründen sind und zu hinterfragen, weshalb bei einer Befragung die tatsächlichen und geschätzten Häufigkeiten verkehrt falsch korrelieren.

Erklären lässt sich die Fehleinschätzung der Ursachen der Erwerbsunfähigkeit mit der „Verfügbarkeitsheuristik“ nach Tversky & Kahneman (1973, zit. nach Fischer et. al, 2013). Diese besagt, dass Menschen etwas für umso wahrscheinlicher halten, wenn sie über mehr Informationen darüber verfügen und zudem je leichter sie diese in ihrem Gedächtnis abrufen können. Demnach kann man die Einschätzung der Befragten, dass Rückenleiden und Unfälle sehr hoch bewertet wurden, damit erklären, dass ihnen Informationen darüber präsenter und leichter zugänglich bzw. abrufbar im Gedächtnis sind. Hingegen die niedrigen Einschätzungen, insbesondere bei psychischen Erkrankungen, ihnen wesentlich ferner liegen und schwer zugänglich.

Nach Fischer et al. (2013) handelt es sich um asymmetrische Fehlschätzungen, wenn die Überschätzung sehr niedriger, tatsächlicher Häufigkeiten und die Unterschätzung sehr hoher erfolgt. Nach Fiedler & Krueger (2012, zit. nach Fischer et al., 2013) handelt es sich zum einen dabei um allgemeine Regressionseffekte, was bedeutet, dass sich Werte bei wiederholten Erhebungen tendenziell mittig einpendeln. Fischer et al. nennt zudem das Beispiel von Strack & Deutsch (2002) „Im Falle der Todesursachen wird der (tatsächlich sehr häufige) Tod durch einen Schlaganfall unterschätzt, während der (sehr seltene) Tod durch eine Fleischvergiftung überschätzt wird“. Analog verhält es sich bei der Befragung zur Berufsunfähigkeit, denn die tatsächlich häufigste Ursache psychische Erkrankungen mit 33% wurde mit der niedrigsten Einschätzung der Befragten (19%) unterschätzt, während die seltenste Ursache Unfall mit tatsächlich nur 5%, von den Befragten mit der zweithöchsten Einschätzung von 43% überschätzt wurde. Die Befragten haben also in Bezug auf die Berufsunfähigkeit, die hohen Ursachen unter- und die niedrigen überschätzt, ähnlich wie in einem weiteren Beispiel nach Fischer et al. (2013) zum 10-mal so hohen Risiko an Magenkrebs zu sterben, wurde diese Todesursache unterschätzt und die seltenere, Mord und Totschlag, überschätzt.

Die „Verfügbarkeitsheuristik“ nach Tversky & Kahneman (1973, zit. nach Fischer et al., 2013) ist geeignet, um die Fehleinschätzungen der befragten Teilnehmer, insbesondere die asymmetrischen Fehlschätzungen bei der Befragung im Führungskräfte-Seminar zur Wahrscheinlichkeit der Ursachen einer Erwerbsunfähigkeit innerhalb des Berufslebens, zu erklären. Die eher gegebene Leichtigkeit des Gedächtnisabrufs bezüglich Unfälle, im Gegensatz zu psychischen Erkrankungen, wurde von den Teilnehmern damals in der Diskussion benannt.

Hier muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass diese Befragung 2005 stattgefunden hat und bis heute die Berichterstattung in den Medien bezüglich psychischen Erkrankungen beispielsweise ebenso wie die direkt Betroffenen Fälle deutlich zugenommen haben, was die Möglichkeit erhöht, dass diese Information inzwischen stärker im Gedächtnis der Menschen gespeichert und leichter abgerufen werden.

Die Statistik aus dem Jahr 2016 weist nur geringfügige Abweichungen auf – es hat demnach diesbezüglich keinerlei Entwicklung stattgefunden?

Alternativ könnte man die Bewertungen der Teilnehmer auch erklären mit einer Dissonanzreduktion gemäß der Theorie der kognitiven Dissonanz nach Festinger (1957, zit. nach Fischer et al., 2013) z.B. Subtraktion dissonanter Kognitionen – Vermeidung von Informationen durch Ignorieren, oder Reduktion der Wichtigkeit dissonanter Kognitionen, wie die für sie bedrohlichere Ursache einer psychischen Erkrankung zu trivialisieren, sowie Substitution dissonanter durch konsonante Kognitionen, wie „ein Unfall mag zwar eine potentielle Ursache sein, aber ich bin eine verantwortungsvolle Führungskraft“, da die Führungskräfte einen Unfall mehr als selbststeuerbar und somit selbstbestimmt vermeidbar empfanden.

Entwicklung 2000 – 2011 psychische Störungen als Ursache vorzeitiger Erwerbsminderung

Die Entwicklung der vorzeitigen Erwerbsminderung wegen psychischer Störungen schreitet fort – ist es nicht Zeit, den Schleier der Verdrängung und Unfähigkeit im Umgang endlich zu lüften? Jeder vierte ist im Leben potentiell betroffen – sollte dem nicht deutlich mehr Beachtung geschenkt werden?

Da zu den häufigsten der psychischen Erkrankungen Angststörungen zählen, die in all den folgenden wohl meist ebenfalls enthalten sein dürften – ist das Hauptthema demzufolge: Angst vs Liebevolles und lebenswertes zusammen arbeiten und leben.

vitalvita.de Ariane Nickel neue Methoden und Lösungen für ein gesundes, lebenswertes und funktionales Zusammenleben und – arbeiten.

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